Gegenwärtig können wir Ideologien und politische Praktiken beobachten, in denen »Vorlagen« aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts anklingen. Unter dem Namen Faschismus und dem Begriff Totalitarismus haben sich diese geschichtlich verwirklicht. Sie bedrohen unmittelbar die Ideale der Demokratie, der offenen Gesellschaft, der Menschenwürde und des globalen Überlebens. Wir sind der Ansicht, dass diese Tendenzen der Schließung sich strukturell im Alltag verankern – nicht verankert werden, denn die Protagonisten des Totalitarismus in Wirtschaft und Politik sind lediglich Taktiker und Gelegenheitstäter, sie haben kleine Ziele, weder die Größe noch die Macht der Strategie. Über den Alltag, die Banalität, kann die Menschenwürde beschädigt werden, bevor das Böse sich manifestiert.
Wir schlagen eine Beobachtungsplattform im Format einer Website vor, ein Comité de vigilance (CdV). Den Namen entleihen wir der geschichtlichen Sammelbewegung dieses Namens: Am 18. April 1934 erschien in Paris die erste Ausgabe von Vigilance (Wachsamkeit), Bulletin des Comité de vigilance des intellectuels antifascistes (CVIA). Vieles darin könnte uns heute bekannt vorkommen – aber die Geschichte wiederholt sich nicht:
»Der Faschismus spricht die Leidenschaften der Menschen an, um deren kritischen Verstand außer Kraft zu setzen; er frisiert die Tatsachen; er vernebelt die Ideen. Unser Ziel ist es, die Tatsachen und die klaren Gedanken wiederherzustellen.« (Vigilance 1, 1934, p.1 nach Racine-Furlaud 1977, p. 90)
Ausgelöst wurde die damalige Bewegung von der Februarkrise 1934 mit den von der Liga der Ultrarechten ausgelösten schweren Ausschreitungen. Der Gründung des Comités vorangegangen war ein Manifest an die Arbeiter, gezeichnet von den Gründern, namentlich dem Physiker Paul Langevin, dem Philosophen Alain (É.-A. Chartier) und dem Arzt und Ethnologen Paul Rivet.
Ein Comité de Vigilance ist nicht neutral, denn es ist dezidiert »anti«, gegen alle Entmündigung und Gewalt, die die totalitaristischen Gedanken in unauffälligen Formen des Alltags vorbereiten, von durchgesetzten Höflichkeitsregeln und diskriminierenden Kleidervorschriften bis zu Sprachregelungen und Parteienumfärbungen. Im Unterschied zu den Menschen der 1930er Jahre wissen wir heute, welche Folgen Faschismus und Totalitarismus in der Welt hatten. Hannah Arendt hat ihnen nach der Mitte des letzten Jahrhunderts eine brillante Analyse gewidmet. Im Unterschied zu der Situation der 1930er Jahre haben wir heute physische und digitale Konnektivitäten, die eine neue, wenig übersichtliche und möglicherweise explosivere Situation schaffen. Weder Antifaschismus noch Pazifismus können mehr in der alten Form gedacht werden. Nicht mehr globale oder nationale Grenzen zählen, der Alltag selbst ist die Arena.
Mit dem Alltag ist die Arbeit im Spiel, die für Arendt (1960) alle Tätigkeiten umfasst, deren Ergebnis dem sofortigen Verbrauch oder Verfall anheimfällt; diese ist nicht nur grammatikalisch, sondern gemäß ihrem sozialen Geschlecht weiblich. Lefebvre hat den Alltag in einer angriffigeren Weise als das Leben der oktroyierten Normalität und der leeren Belohnung durch Konsum im Interesse der herrschenden kapitalistischen Klasse analysiert. Zwischen Arbeitsleben, Alltag und Biopolitik können Linien gezogen werden; sie reichen von der häuslichen Einfassung der Frauen über die Bewegungsgehäuse des Arbeitspendelns zu den Laboren und Lagern als Ausdruck der Substanzialisierung der Gesellschaft, sie verstehen Individuen als Ansammlung von Fällen und »Material« (Schwarte 2009).
Neuauflage oder Nacherfindung?
Der französische Ausdruck »Comité de vigilance« (CdV) enthält eine Aufforderung zur Wachsamkeit, zu einer generellen Aufmerksamkeit, der in anderen Zusammenhängen auch mit dem Ausdruck »observatoire« aufscheint: eines üblicherweise festen Standorts, von dem aus astronomische oder militärische Beobachtungen gemacht werden können, in einem übertragenen Sinn aber die permanente Nachverfolgung ökonomischer oder sozialer Bewegungen oder des linguistischen Wandels beobachtet werden. Man darf hier auch an die seit 1927 erscheinende schweizerische Zeitschrift »Der [Schweizerische] Beobachter« erinnern, dessen Herausgeber Max Ras[worscheg] sich parteiunabhängig für Minderheiten (Kinder der Landstraße) und gegen autoritäre ideologische Strömungen einsetzte. Man könnte ihn als »humanistischen Populismus« apostrophieren.
Die Geschichte des französischen CVIA hat sich in den Jahren 1934-1939 konkret entfaltet und bietet als französischer Weg keine Kontinuität für andere Orte und Zeiten. Der Gedanke der Wachsamkeit und Aufmerksamkeit indessen ist über die Epochen hinweg lebendig. Er bietet sich einem Verband von Disziplinen, die gegenstandsverankert empirisch forschen, offene Theorieentwicklung betreiben und notfalls »eingreifend denken« geradezu an. Frauen, viele aus empirischen, kulturanthropologischen Fächern avant la lettre, waren am CVIA und an der nachfolgenden Résistance maßgeblich beteiligt, auch wenn sie in der geschichtlichen Aufarbeitung immer wieder verschwinden: Colette Audry, Agnès Humbert, Régine Karlin, Hélène Modiano, Germaine Tillion.